Am 6. Oktober 2021 war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Ukraine – auf sehr trauriger Mission. Er besuchte dort zwei Orte, an denen die deutsche Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg schreckliche Verbrechen beging. Babin Jar im Stadtgebiet der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw. Dort ermordeten SS und Wehrmacht am 29./30. September 1941 über 33 000 Juden. Und die Rajon-Stadt Korjukiwka, 150 km nördlich von Kyjiw. Dort wurden – zum Teil von denselben Tätern, Anfang März 1943 fast alle 7000 Einwohner als „Vergeltung“ für einen Partisanenangriff auf Befehl der Wehrmacht ermordet und die ganze Ortschaft niedergebrannt.
Zwei von mehr als tausend Schauplätzen von deutschen Massakern an der Zivilbevölkerung in der Ukraine. Fünf Millionen Zivilisten kamen in der Ukraine während der dreijährigen deutschen Besatzung der Ukraine um, viele davon zielgerichtet ermordet wie in Babin Jar und Korjukiwka. Während seines Besuches bemängelte Steinmeier, dass die Deutschen immer noch viel zu wenig darüber wüssten. „Die Orte der nationalsozialistischen Verbrechen in der Ukraine sind auf der Landkarte unserer Erinnerung kaum verzeichnet“, sagt er in Korjukiwka, nachdem er dort an zwei Gedenkorten Kränze niedergelegt und der Opfer gedacht hatte. Er besuchte ebenfalls ein kleines Museum, das Zeugnisse des Massakers zeigt und eine Schule, um mit jungen Schülern zu sprechen, von denen viele Deutsch als zweite Fremdsprache lernen.
Während Korjukiwka auch in der Ukraine wenig bekannt ist, gewann in den letzten Jahren zumindest die Kyjiwer Gedenkstätte Babin Jar, die Steinmeier am selben Tag besuchte, mehr nationale und internationale Bedeutung. Intensiv wurde in der Ukraine seit der Maidan-Revolution 2014 darüber diskutiert, wie Babin Jar zu gestalten sei und wie der traurigen Tatsache gedacht werden soll, dass dort insgesamt zwischen September 1941 und Ende 1943 wahrscheinlich etwa 200 000 Menschen von den deutschen Besatzern erschossen wurden, die Kyjiwer Juden eingeschlossen.
Die Präsidenten der Ukraine, Israels und Deutschlands, Wolodymyr Selenski, Yitzhak Herzog und Frank-Walter Steinmeier setzten dort am Abend des 6. Oktober 2021 ein bewegendes Zeichen. Sie weihten das neue Holocaust Memorial Babin Jar ein, das unter anderem von der serbischen Künstlerin Marina Abramovic gestaltet wurde. Eine „Kristallwand“ aus Kohle und Kristall, die optisch an die Klagemauer in Jerusalem erinnert, soll Besucher motivieren, vor ihr innezuhalten und über das dort Geschehene nachzudenken. Ein „Spiegelfeld“ mit von Kugeln zersiebten Säulen symbolisiert die Dimension des Massakers. Eine symbolisch nachgebaute Synagoge erinnert an die einstige Bedeutung des Judentums in der Ukraine. Israels Präsident Herzog erinnerte in seiner Rede zur Einweihung daran, dass die Ukraine einst sowohl Wirkungsstätte bedeutender jüdischer Gelehrter war als auch Herkunftsort der Familien vieler der Gründergenerationen Israels, wie die Ministerpräsidenten Golda Meir (in Kiew geboren) oder Yitzhak Rabin (sein Vater kam aus der Tschernobyl-Region). Der ukrainische Präsident Selenski, der selbst aus einer jüdischen Familie stammt, erinnerte in seiner Rede daran, welch großen Verlust das Land durch den Holocaust erlitten habe. Und meinte, dem Bösen müssen man nicht nur mit Waffengewalt, sondern vor allem mit Menschlichkeit gegenübertreten, um es zu besiegen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bedauerte in seiner Rede, der „Holocaust durch Kugeln“, der systematische Massenmord an den ukrainischen Juden durch die deutsche Besatzungsmacht unmittelbar nach ihrem Einmarsch 1941, sei in Deutschland viel zu wenig bekannt, die Erinnerung „blass“ und „schemenhaft“. Er zeigte sich auch beschämt, dass in Deutschland Antisemitismus wieder mehr um sich greife und forderte, dem entschieden Einhalt zu gebieten.
Seine sehr lesenswerte Rede hier im Volltext
Das in deutschem Namen in der Ukraine begangene schreckliche Unrecht ist eine Verpflichtung, uns für die Menschen in der heutigen Ukraine zu interessieren und sie auf ihrem selbstgewählten (Rück-)Weg in die politische Mitte Europas zu unterstützen. Der auch vom Bundespräsidenten ausgesprochene Mangel an Kenntnissen in Deutschland über die Ukraine und die deutschen Verbrechen in der Ukraine ist uns ein Ansporn, daran zu arbeiten, das zu ändern – wir freuen uns, wenn Sie uns mit einer Mitgliedschaft im Deutsch-Ukrainischen Forum dabei unterstützen.
Gerald Praschl, Stv. Vorsitzender des Deutsch-Ukrainischen Forums
Mehr über Korjukiwka unter folgenden Links:
Die vergessene Tragödie von Korjukiwka, von Jens Piske
Das vergessene Massaker von Korjukiwka, von Christoph Brumme
Mehr zu Babin Jar:
Der Wikipedia-Eintrag (deutsch) zu Babin Jar
Website des „Babyn Yar Holocaust Memorial Center“ (Englisch)