Die G7 haben eine Koordinationsrolle für den Wiederaufbau der Ukraine übernommen. Es geht nicht nur um Wiederaufbau, sondern auch um die Modernisierung nach dem Motto „building back better“. Aber es geht vor allem um eine nachhaltige und digitale Modernisierung der Industrie und Infrastruktur. Kernbereiche für den Wiederaufbau sind: Maschinenbau, Landwirtschaft, Energiesektor, Stahlindustrie. Letztere befindet sich in einer besonders schweren Lage aufgrund des Krieges.
Zahlreiche Werke sind besetzt oder zerstört. Bei unserer DUF-Konferenz in Frankfurt am Main im Sommer 2023 im Rahmen der DIGISUSTAIN hat der Sprecher des ukrainischen Stahlunternehmens Arcelor Kryvyj Rih von den dramatischen Folgen des Krieges, aber auch von der Modernisierung der Stahlindustrie berichtet. Allein 2500 Mitarbeiter des Unternehmens seien derzeit in der Armee, 90 von ihnen seien ums Leben gekommen … Die Werke arbeiten deutlich unter der Kapazitätsgrenze. Immerhin exportiert ArcelorMittal inzwischen 76 Prozent seiner Produktion in die EU, 2021 waren es erst 1 Prozent. Während sich die Schwerindustrie des Landes in einer existentiellen Krise befindet und unserer Unterstützung bedarf, entwickelt sich die digitale Industrie auffällig positiv.
„Heute an einen Wiederaufbau mit nachhaltiger sozialer Wirkung zu denken, ist eine schmerzhafte Aufgabe, denn: in der aktuellen Kriegslage gilt es, jeden Tag zu überleben und die Bedarfe der Kunden zu decken; es ist nicht so, dass man nicht an Nachhaltigkeit denke, dies ist gleichwohl überlagert von existenziellen Fragen“. Mit diesen Worten beschrieb Andrij Fedoriv (Founder &CEO der Agentur für Marketing und Innovation FEDORIV) die Schwierigkeit, mitten im Krieg über die Notwendigkeit über den Wiederaufbau der Ukraine zu diskutieren. Gleichzeitig hob er die Bedeutung des digitalen Sektors für den Wiederaufbau in der Ukraine hervor: „Er ist schnell, jung, bunt und hungrig“.
Alex Fesiak, Vice President Sales von Indeema Software, untermauert in seinem Statement diese Beschreibung: „Das jährliche Wachstum des Digitalsektors lag vor dem Krieg bei 25-30 Prozent. Ein Grund dieser dynamischen Entwicklung liegt in förderlichen Rahmenbedingungen, insbesondere in der zurückhaltenden Besteuerung von Start-ups.“
Beide Redner auf der DUF-Veranstaltung in Frankfurt waren sich einig, dass der IT-Sektor bei der Überwindung der durch den Krieg verursachten wirtschaftlichen Krise eine wichtige Rolle spielen kann. Aufgrund der Besonderheiten dieses Industriezweigs kann er sehr schnell wieder an die Erfolge vor der Invasion der russischen Truppen anknüpfen. „Was jetzt notwendig ist, sind reale Investitionen in den IT-Sektor, um wieder wachsen zu können“ (Andrij Fedoriv). Gleichzeitig versuchen ukrainische IT-Unternehmen auf ausländische Märkte auszuweichen, um die fehlende Nachfrage während des Kriegs in der Ukraine abzumildern (Alex Fesiak).
Als Vertreter der deutschen und europäischen Perspektive war Markus Wartha (Managing Partner von Power Providing und President/CEO von EDASCA) in die Diskussion eingebunden. Er hob das große Potential des ukrainischen IT-Sektor hervor, um insbesondere kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland und EU bei ihren Herausforderungen in der digitalen Transformation zu helfen. „Was hierzu notwendig ist, sind intelligente Kooperationsformen, die einerseits den Marktzugang für ukrainische Unternehmen innerhalb der EU multilateral ermöglichen und andererseits den angemessenen Teil der Wertschöpfung in der Ukraine belassen, um dort einen signifikanten Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg und damit zur Erholung zu leisten“ (Markus Wartha).
Die lebendige Diskussion und die rege Beteiligung der Teilnehmer dieser Veranstaltung in Frankfurt am 12. Juni machten gleichermaßen die Relevanz des Themas deutlich und gaben Hinweise darauf, dass die Zusammenarbeit beim Wiederaufbau der Ukraine auch Deutschland helfen kann, seine eigenen Herausforderungen zu meistern.
In der Diskussion um den Wiederaufbau der Ukraine stehen Infrastruktur, Wohnungen und die Beseitigung der ökologischen Schäden im Vordergrund. Gleichzeitig ist aber offensichtlich, dass nur mit einer wirtschaftlichen Erholung und einem breiten Angebot an Arbeitsplätzen sich die politische Situation in der Ukraine in der Übergangszeit zum Frieden und danach stabilisiert.
Aufgrund des breiten deutschen Instrumentariums in der internationalen Zusammenarbeit und der gestaltenden Rolle von Deutschland innerhalb der EU sind hierbei die ukrainischen Erwartungen an die Unterstützungsleistung von Deutschland sehr hoch. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass wir der besonderen Dimension der Aufgabe, Beiträge zur mittel- und langfristigen Stabilisierung des Landes zu leisten, nur gerecht werden, indem wir eine neue Qualität in der Koordinierung, in der Kohärenz und in der Kooperation der unterschiedlichen Akteure bei der Zusammenarbeit erarbeiten.
Aufgrund der Leistungsfähigkeit der ukrainischen IT-Industrie und deren geringe logistischen Anforderungen kann der IT-Sektor eine wichtige Rolle im Wiederaufbau und in der Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung spielen. Ein Weg, diesen Sektor auf seinen Erfolgsweg zurückzuführen, liegt in dem verbesserten Zugang zum EU-Markt.
Da der IT-Sektor in der Ukraine überwiegend von kleineren und mittleren Unternehmen (KMU) geprägt ist, kann dieser Weg durch Maßnahmen in der Qualifikation, im Programm- und Projektmanagement und im Business Development beschleunigt und ausgeweitet werden.
Ein geeignetes Model für die Umsetzung dieser Maßnahmen ist die Alliance for IT Sourcing Excellence. Das Herzstück dieses Ansatzes liegt in dem Aufbau einer Genossenschaft, in der ukrainische und deutsche (europäische) KMU gleichberechtigte Partner sind. Innerhalb dieser Genossenschaft findet die Qualifikation für den EU-Markt und entsprechende Geschäftsentwicklungen statt. Gleichzeitig erleichtert diese Plattform die Mobilisierung der notwendigen Ressourcen für die digitale Transformation in Europa.
Der Weg von verlängerter Werkbank hin zu einer partnerschaftlichen Genossenschaft erhöht gleichermaßen die Wertschöpfung in der Ukraine und reduziert die Lieferprobleme deutscher IT-Unternehmen durch eine auf Kooperation aufgebautes „Nearshoring“. Sämtliche Kundenbeziehungen werden auf der soliden Grundlage der Genossenschaftsregeln nach deutschem und europäischem Recht gestaltet. Dies bietet allen Beteiligten Transparenz und Sicherheit in ihrem Geschäftsgebaren.
Innerhalb der Genossenschaft entwickeln ukrainische und deutsche Unternehmen gemeinsam Strategien zur Qualifikation und Marktentwicklung. Zudem werden ukrainische Unternehmen nicht nur für ihre einzelnen Leistungspakete bezahlt (Stichwort „verlängerte Werkbank“), sondern erhalten einen angemessenen Teil der Marge aus den einzelnen Aufträgen. Dieser Gewinn ermöglicht es ihnen, die weitere Entwicklung ihrer Unternehmen in der Ukraine eigenständig zu gestalten. Auf der anderen Seite werden die deutschen Partner damit entlastet bei den notwendigen Investitionen in ihre jeweiligen Lieferketten. Das Mehr an Wertschöpfung in der Ukraine und die damit verbundene eigene Gestaltungsfähigkeit ihrer wirtschaftlichen Perspektiven führt gleichzeitig auf deutscher Seite zu stabilen Lieferketten und damit zu einer Verbesserung ihrer Position auf dem deutschen und europäischen Markt.
Gerade im IT-Sektor führt eine intelligente Vernetzung auf der Basis von genossenschaftlichen organisierten Geschäftsabläufen dazu, dass kleine und mittlere Unternehmen ihre Flexibilität und Kreativität in Zeiten von wirtschaftlichen und geopolitischen Krisen nicht nur erhalten, sondern damit auch zusätzliche Entwicklungspotentiale erschließen.
Eine Alliance for IT Sourcing Excellence kann damit einen Beitrag sowohl zu schneller wirtschaftlicher Erholung in der Ukraine leisten als auch mittelfristig zur Stärkung der Resilienz der ukrainischen Wirtschaft beitragen.